Die Europäische Union, oft Vorreiter in der Regulierung neuer Technologien, sieht sich Anfang Juni 2025 mit einer potenziell signifikanten Kurskorrektur ihres ambitionierten KI-Gesetzes konfrontiert. Berichte deuten darauf hin, dass die Europäische Kommission eine Verschiebung der Anwendung und Durchsetzung bestimmter, noch nicht in Kraft getretener Bestimmungen erwägt. Diese Überlegungen, maßgeblich von einer polnisch geführten Initiative angestoßen, sind nicht Ausdruck eines Scheiterns, sondern vielmehr ein notwendiger Realitätscheck für ein Gesetzeswerk, das versucht, eine sich rasant entwickelnde Technologie in einen umfassenden rechtlichen Rahmen zu gießen.
Die Gründe für die mögliche Neubewertung sind vielschichtig. Ein zentraler Kritikpunkt ist das Fehlen ausgereifter technischer Standards, die für die praktische Umsetzung des Gesetzes unerlässlich sind. Ohne klare technische Vorgaben tappen Unternehmen, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, im Dunkeln, wie sie die komplexen Anforderungen, beispielsweise für als hochriskant eingestufte KI-Systeme, erfüllen sollen. Folgerichtig gehört zu den Vorschlägen eine Ausweitung der Ausnahmeregelungen für KMU im Hochrisikobereich und die Einführung von Ausnahmeregelungen für KI-Systeme mit geringer Komplexität, die andernfalls aufwändige Drittbewertungen durchlaufen müssten.
Darüber hinaus gibt es erheblichen Druck vonseiten der Industrie, die seit 2021 Bedenken äußert, dass das KI-Gesetz in seiner jetzigen Form Innovationen behindern könnte. Die Sorge gilt unsicheren Anwendungsbedingungen strenger Compliance-Anforderungen und hohen Eintrittsbarrieren, insbesondere für kleinere Organisationen. Auch internationale Partner, allen voran die USA, haben ihre Besorgnis über mögliche Innovationshemmnisse geäußert und kritisieren, dass ergänzende Materialien wie der Verhaltenskodex für Allzweck-KI das Gesetz über seinen ursprünglichen Zweck hinaus erweitert und Unternehmen unfair belastet hätten.
Ein weiterer Faktor sind operative Verzögerungen. Wichtige Leitlinien, wie der bereits erwähnte Verhaltenskodex, wurden verspätet veröffentlicht, und harmonisierte Standards für die Compliance werden erst für 2026 erwartet. Selbst Leitlinien zu verbotenen KI-Praktiken erschienen erst kurz vor Inkrafttreten der entsprechenden Bestimmungen, was den Unternehmen kaum Vorbereitungszeit ließ. Diese praktischen Implementierungshürden nähren das Argument, dass das KI-Gesetz erst dann „fit for purpose“ ist, wenn alle seine Komponenten finalisiert und kommuniziert sind.
Die Diskussionen um eine Anpassung finden zudem im breiteren Kontext von EU-Bestrebungen zur „Vereinfachung“ statt, die in sogenannten Omnibus-Paketen verschiedene Legislativbereiche umfassen und die Wettbewerbsfähigkeit der EU steigern sollen. Es geht also nicht nur um das KI-Gesetz selbst, sondern um eine generelle Überprüfung, wie die EU Regulierung und Innovationsförderung in Einklang bringen kann. Die Einrichtung eines regulatorischen Querforums zur Gewährleistung der Konsistenz über die gesamte EU-Digitalregulierung hinweg ist ein weiterer Vorschlag in diese Richtung.
Die mögliche Verschiebung und Anpassung des EU KI-Gesetzes ist ein Zeichen von Pragmatismus. Ein starres Festhalten an einem möglicherweise überambitionierten Zeitplan oder an Bestimmungen, die sich in der Praxis als innovationsfeindlich oder schwer umsetzbar erweisen, würde dem Ziel, einen globalen Standard für vertrauenswürdige KI zu setzen, eher schaden. Die Bereitschaft, auf Kritik zu hören und nachzubessern, ist entscheidend, um ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz von Grundrechten und der Förderung von Innovation zu finden. Es bleibt abzuwarten, wie die EU-Minister diese komplexe Gemengelage bewerten werden, doch die Signale deuten auf eine notwendige Flexibilisierung hin.
Die potenzielle Anpassung des EU KI-Gesetzes ist ein positives Zeichen. Sie demonstriert Lernfähigkeit und die Bereitschaft, auf berechtigte Bedenken aus Wirtschaft und Praxis einzugehen. Eine Regulierung, die den Bogen überspannt, erstickt Innovation und schadet letztlich der Wettbewerbsfähigkeit Europas. Eine pragmatische Feinjustierung, die den Schutzgedanken wahrt, aber gleichzeitig Raum für Entwicklung lässt, ist der richtige Weg, um das KI-Gesetz zu einem Erfolgsmodell zu machen, das tatsächlich als globaler Goldstandard dienen kann.